Das System eines Menschen wird von seinen inneren Teilen (auch Anteil, Stimme, Betrachtungsweise, Gedanke, Gefühlszustand genannt) und ihrem Verhältnis zum Selbst definiert. Richard Schwartz hat bei seiner Arbeit bemerkt, dass sich diese inneren Anteile wie Mitglieder eines Familiensystems verhalten. Einzelne Mitglieder dieser inneren Familie (sog. Teile) können das Selbst kapern beim Versuch, das System (den Menschen) vor unerwünschtem Schmerz zu bewahren. Genauso wie ein Vater seine Tochter kritisiert, wenn sie seiner Meinung zu wenig für die Schule tut. Er möchte sie (und sich) vor dem Schmerz bewahren, dass sie später kein Auskommen hat und «auf der Gosse landet».
Richard Schwartz hat auch entdeckt, dass Anteile auf Interventionen eingehen und darauf reagieren. Wenn diese Teile nämlich ein minimales Vertrauen zum Selbst des Klienten (oder des Therapeuten) gefasst haben, kann man Bitten an sie richten. Wenn sie bereit sind, Versprechen über ihr Verhalten zu geben, werden sie sich an das Versprechen halten. Ein erstaunliches Phänomen, das ich an folgendem Beispiel ausführen möchte. Es geht dabei um die Auseinandersetzung mit meinem inneren Kritiker. Als Erstes fiel mir auf wie schwer es mir fiel, dem inneren Kritiker vorurteilsfrei zu begegnen. Mir kamen Situationen in den Sinn, wo er mich kritisch auf meine Schwächen hingewiesen hatte, wenn ich etwas Neues ausprobieren wollte. Ich fragte mich, was daran positiv sein sollte? Darauf bemerkte ich aber, dass diese Stimme, die sich gegen den Kritiker wendete, ein anderer Teil von mir war, der gar nichts von diesem inneren Kritiker hielt und ihn am liebsten sofort loswerden möchte. Diesem Teil von mir teilte ich mit, dass ich ihn gut verstehen würden und bat ihn, für einen Moment zur Seite zu treten, damit ich die Beweggründe des Kritikers herausfinden konnte. Ich möchte nämlich wissen, warum er mich so heftig kritisiert, was er damit erreichen möchte und was er befürchtet, würde passieren, wenn er mich nicht mehr kritisieren würde? Zu meiner Überraschung fing der Kritiker an, mir zu erzählen, was er für seine Aufgabe hielt. Er erklärte mir, dass er mich durch seine Kritik davor bewahren möchte, Dinge zu unternehmen, an denen ich scheitern könnte oder die mich beschämen könnten. Er tut alles dafür, um mich vor dem Gefühl zu bewahren, ein Versager zu sein. Als ich das hörte war ich beeindruckt und merkte auch, wie ernst er seine Aufgabe nimmt. Er sagte mir auch, dass er befürchtet, ohne ihn würde mein System von Schmerz, Versagensängsten und Verzweiflung überwältigt und das könne er auf keinen Fall zu lassen. Ich begegnete ihm nun mit Respekt und Mitgefühl und fragte ihn, was er denn braucht, um sich zu entspannen. Er sagte mir, dass er unbedingt diesen kleinen hilflosen und alleingelassenen Teil von mir vor weiterem Schmerz beschützen muss. Solange dieser kleine Junge nicht in Sicherheit ist, muss er seine Schutzfunktion weiter ausüben.
Viele sind mit Teilen wie dem «inneren Kritiker», einem beschämten, erfolglosen oder überängstlichen Teil identifiziert und sind fest überzeugt: «Das bin ich, so bin ich halt.» Dann ist ein starker Anteil in diesem Menschen aktiviert, dieser fühlt sich der entsprechenden inneren Stimme ausgeliefert und hat keinerlei Abstand dazu. Der erste Schritt in der Arbeit mit IFS besteht darin, sich dieses Vorgangs bewusst zu werden und einen kleinen Abstand zum betroffenen Anteil herzustellen.
Dies geschieht in diesem Fall, indem man lernt, dem inneren Kritiker, dem beschämten oder ängstlichen Anteil mit Neugier und Offenheit zu begegnen. In dieser Begegnung teilt er uns mit, was seine Absichten sind und vor allem seine Ängste, wenn er seine Aufgabe nicht mehr erfüllen würde.
Diese neugierige und offene Zuwendung scheint im ersten Moment absurd, weil es doch gerade diese kritische, beschämte oder ängstliche Stimme ist, die uns ständig in Schwierigkeiten bringt. In der Vergangenheit haben wir wohl versucht, diese Anteile durch Kampf, Ablehnung, positives Denken und vielleicht auch Meditation loszuwerden. Ist dies gelungen? Zum grössten Teil nicht! Dieser offensichtliche Misserfolg macht uns offen dafür, einen anderen Zugang zu probieren. Dabei entdecken wir, dass die Absichten dieser Teile immer positiv sind. Sie wollen uns vor etwas schützen, deshalb werden sie im IFS Beschützerteile genannt.
Auch wenn die Absicht dieser Anteile immer positiv ist, heisst das nicht, dass ihre Auswirkungen wie Suizid, Gewalttaten, Depression, die Unmöglichkeit einer intimen Beziehung, narzistisches Verhalten usw. nicht katastrophal sein können und es in vielen Systemen auch sind. Umso wichtiger ist es, uns diesen Anteilen endlich zu zuwenden und sie zu heilen.
Andere innere Anteile werden Verbannte genannt. Das sind schützenswerte, meist kindliche Anteile, die durch ihre schmerzhaften, traumatischen, überfordernden Erfahrungen in der Vergangenheit geprägt sind und die in diesen vergangenen Erfahrungen wie eingefroren sind. Beschützerteile tun alles, um das System vor dem Schmerz, den diese Verbannten tragen, zu bewahren.
Verbannte tragen zudem Lasten: Vergangene schmerzhafte Erlebnisse haben dazu geführt, dass sich im Inneren eines Menschen bestimmte, meist unbewusste Überzeugungen über sich und das Leben verfestigt haben. «Ich bin nicht liebenswert», «ich bin nie genug», «ich bin dumm», ich bringe es zu Nichts», «ich muss mich durchsetzen, sonst werde ich übergangen» sind Beispiele solcher Glaubenssätze. In Verlaufe von IFS-Prozessen erlebt der Klient, wie er sich von diesen Lasten befreien kann.
Nachdem dies geschehen ist, können nun Beschützerteile neue erfüllendere Aufgaben übernehmen und dem System (dem Menschen) in einer konstruktiven Weise dienen. Diese Veränderungen sind nachhaltig und wirken sich auf alle Bereiche des Lebens aus. Das Selbst des Klienten wird gestärkt und die Klientin oder der Klient erfährt eine grosse Steigerung ihrer Selbstwirksamkeit und Präsenz.
Ein entscheidender Schritt in der Arbeit mit inneren Anteilen ist der sog. U-Turn. Damit meinen wir die Umkehr der Blickrichtung von Aussen nach Innen. Wenn bisher Opferhaltung, Projektionen und Aussenorientierung unsere Grundhaltung war, lernen wir, unseren Blick vom Aussen weg nach Innen zu lenken. Wir erkennen, dass die Welt, die wir sehen und erfahren, vor allem durch unsere innere Haltung geprägt ist. Diese ist vielfach durch das Verschmolzensein mit unseren Beschützerteilen oder verbannten Anteilen, das heisst verletzten inneren Kinderteilen überschattet. Die Veränderung des Blickwinkels ist zunächst einmal ungewöhnlich. Sind wir doch gewohnt, das was im Aussen geschieht für unsere Gefühle und unsere Reaktionen darauf verantwortlich zu machen.
Diese Wendung nach Innen heisst nicht, dass Übergriffe, Gewalt, Missbrauch nun plötzlich ok und akzeptabel sind. Keinesfalls. Es heisst vielmehr, dass wir uns immer mehr bewusst werden, ein Selbst* in uns zu haben, das von all diesen äusseren Vorgängen, so schmerzhaft und unerträglich sie auch sein mögen, nicht geschmälert und eingeschränkt werden kann. Unser Selbst bekommt dadurch wieder den Platz, den es bei unserer Geburt hatte. Wir erfahren das Leben wieder als die Freiheit, mit der wir zur Welt gekommen sind. So gewinnen wir auch die Kraft gegen Übergriffe und Gewalt vorzugehen.
Der IFS Zugang ist auch hervorragend geeignet für den Umgang mit Polarisierungen (Nähe / Distanz, Sparsamkeit / Grosszügigkeit, Sich Sorgen / Sorglosigkeit etc.). Wir hören den Teilen neugierig zu, die sich gegenseitig polarisieren und in vielen Fällen blockieren. Wir lernen ihre Absichten kennen und wovor sie Angst haben. Schon beim offenen Zuhören entsteht ein Entspannung in unserem Inneren, weil die polarisierten Teile merken, dass sie ernst genommen werden. Entscheidungen, die nun getroffen werden, sind viel besser auf unsere innere und äussere Wirklichkeit abgestimmt.
IFS-Zugang in der Partnerschaft (Paartherapie)
Mit IFS nehmen wir das Äussere als Spiegelung des Inneren wahr. Die schmerzhafte Polarisierung, in der Paare gefangen sind, die Ängste, die Konflikte, die scheinbar angemessenen und gleichzeitig sehr verletzenden Verhaltensweisen, wie Wutausbrüche oder Rückzüge, all dies passiert auch im Inneren zwischen den Teilen des einen oder anderen Partners mit dem damit einhergehenden Schmerz und der Verwirrung, welche oft von Gefühlen des Verlustes und der Verlassenheit begleitet werden.
Während diese Gleichzeitigkeit der äusseren und inneren Erfahrung am Anfang eine Quelle tiefsten Schmerzes darstellt, wird sie sich später in der Therapie und im Leben als Vorteil herausstellen. Bearbeitung d. h. Anerkennung von Teilen durch das Selbst des Klienten ist notwendig, um Raum für eine Neueinschätzung der inneren und äusseren Erfahrung zu schaffen. Das Erleben von Mitgefühl und Wertschätzung gegenüber seiner (ihrer) eigenen inneren Familie führt zu einer empathischen Wertschätzung der Dilemmas, in der sich der jeweilige Partner, die jeweilige Partnerin befindet.
Beschützende Anteile, die sich aus schmerzhaften Erfahrungen in der Ursprungsfamilie gebildet haben, sind nach und nach weniger auf der Hut und werden vertrauensvoller. Dies wird vor allem durch die Bezeugung und Entlastung der sog. verbannten (kindlichen) Anteile ermöglicht. Mit einer gesunden Portion Selbst-Liebe entwickeln wir mehr Gelassenheit anderen Perspektiven gegenüber. So kann sich z.B. der Zwang, recht haben zu müssen, zurückbilden. Unsere Herzen müssen sich weniger schützen. Mit dieser Offenheit, die nun als Stärke empfunden wird, ist Verschiedenheit keine lebensbedrohliche Erfahrung mehr.
Das Selbst oder die innere Weisheit des Klienten ist der entscheidende Faktor in der Heilung von ungesunden und (selbst-) zerstörerischen Verhaltensweisen und Denkmustern.
Dieses Selbst ist allen Menschen eigen, wir sind damit auf die Welt gekommen. Es ist unverletzbar, immer ganz und hat Qualitäten von Neugier, Klarheit, Ruhe, Selbstvertrauen, Mut, Verbundenheit, Kreativität und Mitgefühl. In der Arbeit helfe ich dem Klienten den Zugang zum Selbst herzustellen und zu verstärken.
* Das Selbst wird in anderen Traditionen die Seele, der Zeuge, der Beobachter, das Nicht-Selbst, die Quelle, der Kern genannt